Ausreichend Schlaf soll Mohammed Ben Sulayem besonders wichtig sein. Termine weit vor dem Mittag seien mit dem mächtigen Präsidenten des Internationalen Automobilverbandes Fia deswegen recht schwer zu vereinbaren, heißt es im Fahrerlager der Formel 1.
Und Gesprächsbedarf mit dem 61-Jährigen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gab es in den knapp eineinhalb Jahren seiner bisher turbulenten Amtszeit mehr als genug. Ob Zoff mit den Formel-1-Besitzern, Kritik der Fahrer oder Mobbing- und Sexismus-Vorwürfe: Der ehemalige Rallye-Pilot stand zuletzt mehr im Fokus, als er sollte.
Vor dem Großen Preis von Aserbaidschan am Sonntag (13.00 Uhr/Sky) in Baku reagierte die Fia auf die neuesten Anschuldigungen. Die ehemalige Mitarbeiterin Shaila-Ann Rao, einstige Interims-Generalsekretärin, verfasste vor ihrem überraschenden Abgang Ende vergangenen Jahres einen Brief, in dem sie sexistisches Verhalten beklagte. Diese Vorwürfe gegen Ben Sulayem sollen aber nie untersucht worden sein.
Mitarbeiterin angeschrien
Das bestritt der Weltverband und sprach von einem «ordnungsgemäßen Verfahren mit einer gütlichen Verhandlung». Eine mögliche Weiterleitung der Angelegenheit an die Fia-Ethikkommission habe es anschließend aber trotzdem nicht gegeben. Ferner seien «keine Beschwerden» gegen Ben Sulayem eingegangen. Laut des englischen «Telegraph» soll sich Rao durch den Präsidenten gedemütigt gefühlt haben. Unter anderem soll er die in der Szene angesehene Anwältin 2022 in Belgien im Fahrerlager öffentlich angeschrien haben.
Auf seiner alten Internetseite aus dem Jahr 2001 war zuvor schon ein Zitat aufgetaucht, dass Ben Sulayem wegen seines Frauenbildes Kritik einbrachte. Dort hieß es in einer Passage über ihn: «Ich liebe die Wüste und ich liebe es, echte Menschen zu treffen». Aber er rede nicht gerne «über Geld, und ich mag auch keine Frauen, die meinen, sie seien schlauer als Männer, denn sie sind es in Wahrheit nicht».
Auch hier reagierte die Fia. Diese Bemerkungen würden «nicht die Überzeugungen des Präsidenten widerspiegeln», hieß es von einem Sprecher. Schließlich habe er sich «sehr für die Förderung von Frauen und die Gleichstellung im Sport eingesetzt». Daran lasse er sich «gerne messen». Der Eindruck der entstand, war aber ein anderer.
Verbot von privater Unterwäsche im Cockpit
Auch fachlich überzeugte der erste Fia-Präsident, der nicht aus Europa kommt, bislang kaum. Mit dem Bann für das Tragen von Schmuck und privater Unterwäsche im Cockpit eckte der im Dezember 2021 gewählte Nachfolger von Jean Todt bei den Piloten um Rekordweltmeister Lewis Hamilton an. Seine Aussagen über die kommerzielle Vermarktung der Formel 1 lösten einen Brandbrief der Besitzer aus. Ben Sulayems Äußerungen zu einem angeblichen milliardenschweren Kaufangebot aus Saudi-Arabien würden «in nicht zu akzeptierender Weise in unsere Rechte eingreifen», kritisierten die Eigentümer Liberty Media.
Ben Sulayem hatte ein angeblich vom saudi-arabischen Staatsfonds im vergangenen Jahr erwogenes Übernahmeangebot für die Formel 1 in Höhe von mehr als 20 Milliarden US-Dollar (damals rund 18,4 Milliarden Euro) als überhöht bezeichnet. Liberty Media bezahlte 2017 rund 4,4 Milliarden US-Dollar. Ben Sulayem formulierte außerdem Ratschläge für potenzielle Käufer, diese Dinge liegen aber überhaupt nicht in seinem Aufgabenbereich. Zuvor hatte die öffentliche Unterstützung einer Erweiterung des Starterfelds um das US-Projekt von Michael Andretti und Cadillac für Unmut gesorgt. Die Mehrheit der zehn aktuellen Rennställe will die wachsenden Milliarden-Einnahmen nicht mit Neuzugängen teilen und unter sich bleiben.
»Der schaut, wo die Kameras sind»
Ben Sulayem hat sich mittlerweile aus dem Tagesgeschäft der Formel 1 zurückgezogen – nach offizieller Darstellung soll das von Anfang an der Plan gewesen sein. Er ist auch noch für die anderen Serien unter dem Dach der Fia zuständig, stand zu Beginn aber merklich gerne im Rampenlicht. Dass er bei der Schweigeminute für die gestorbene Queen im Vorjahr vor den Kameras die Nähe zu den britischen Mercedes-Fahrern George Russell und Lewis Hamilton suchte, kam im Fahrerlager nicht gut an. «Der schaut nicht aufs Regelwerk, der schaut, wo die Kameras sind», sagte ein namentlich nicht genannter Teamchef der «Sport Bild».
Bei den vergangenen beiden Rennen in Saudi-Arabien und Australien fehlte Ben Sulayem – allerdings aus traurigem Anlass. Sein Sohn Saif starb Anfang März bei einem Autounfall in Dubai. Ob das auch der Grund ist, warum der zuvor recht mitteilungsfreudige Funktionär seinen Twitter-Account deaktivierte, ist unklar. In Baku wird der Weltverbandschef dem Vernehmen nach zurück an der Strecke erwartet.