30 Sekunden ließen den Hass im Netz wieder eskalieren. Mit genau dieser Zeitstrafe wurde der zweimalige Formel-1-Weltmeister Fernando Alonso beim Großen Preis der USA Ende Oktober wegen Fahrens mit einem unsicheren Auto belegt. Daraufhin entlud sich online Aggression – vor allem gegen Silvia Bellot.
Die Spanierin ist bereits seit 2011 als Rennkommissarin für den Automobil-Weltverband Fia tätig. 2020 stieg sie außerdem in der Männer-Domäne zur ersten Renndirektorin auf mit Einsätzen in der Formel 2 und Formel 3. Die Katalanin ist außerdem Botschafterin der Fia-Kommission für Frauen im Motorsport.
Was die angesehene Bellot aber mit Regelhüter-Kollegen in Austin entschied, sollte für sie persönliche Folgen haben – auch wenn die Strafe nach einem Protest von Alonsos Rennstall Alpine später wieder gestrichen wurde.
«Plage für unseren Sport»
Von Todesdrohungen sprach Automobil-Weltverbandspräsident Mohammed ben Sulayem im konkreten Fall und prangerte in einem Offenen Brief den Hass im Netz an. Dieser sei «zu einer Plage für unseren Sport» geworden. «Das Ausmaß der anhaltenden Vergiftung hat einen dramatischen Zustand erreicht. Es ist an der Zeit, dass wir uns alle zusammenschließen – und handeln.»
Vor Bellot gab es schon zahlreiche Opfer von digitaler Gewalt rund um die Königsklasse des Motorsports. Williams-Pilot Nicholas Latifi erhielt nach der umstrittenen WM-Niederlage von Lewis Hamilton 2021 gegen Max Verstappen Todesdrohungen. Latifis Crash hatte für die Safety-Car-Phase gesorgt, an deren Ende Verstappen nach einer fragwürdigen Entscheidung der Rennleitung Hamilton noch zum WM-Titel überholte.
Oder der Fall Hannah Schmitz. Befeuert von Verschwörungstheorien im Netz nach dem Heimsieg von Verstappen in diesem Jahr in Zandvoort wurde der Red-Bull-Chefstrategin auch mit Hassparolen zugesetzt.
Verbandschef: «Absolut inakzeptabel»
Für ben Sulayem ist die Personalie Bellot nun aber Anlass, ein Stoppschild setzen zu wollen. Es sei «absolut inakzeptabel», dass Freiwillige, Offizielle und Angestellte diesem «extremen Missbrauch ausgesetzt sind», schrieb der Verbandschef vor dem Grand Prix von Brasilien. «Das hat in unserem Sport keinen Platz. Es hat verheerende Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit und die unserer Angehörigen.»
Rekordweltmeister Hamilton hat bei Instagram rund 30,4 Millionen Follower, bei Twitter sind es etwa 7,8 Millionen. Als einziger schwarzer Fahrer weiß er um die Gefahr von Diskriminierung – nicht zuletzt im Netz. «Soziale Medien werden mit den Jahren immer vergifteter, und ich denke, wir sollten uns alle endlich davon lösen», sagte er in der Debatte um psychische Gesundheit. «So viele Menschen lesen die Kommentare und das Zeug, das die Leute sagen, und das ist verletzend.»
Hamilton verwies darauf, dieses Zeug selbst nicht zu lesen. Der Mercedes-Pilot hat eine Agentur, die sich um seine Online-Auftritte kümmert. Er forderte aber, dass die Plattformen mehr tun müssten, «um die Menschen zu schützen, vor allem junge Kinder und Frauen, aber im Moment tun sie das nicht».
An Social-Media-Plattformen herangetreten
Deshalb ist der Automobil-Weltverband an Social-Media-Plattformen herangetreten und versucht, sie zu verbindlichen Aktionen gegen digitale Gewalt zu bewegen. Die Fia arbeitet außerdem mit einem Unternehmen zusammen, das mittels künstlicher Intelligenz «missbräuchliche Inhalte» auf den Formel-1-Kanälen erkennen und beseitigen soll.
Die Formel 1 kämpft gegen ein Phänomen, mit dem es auch der Rest der Gesellschaft zu tun hat. Die Netflix-Doku «Drive to Survive» zum Beispiel hat der Motorsport-Königsklasse zwar jüngere Zielgruppen erschlossen. Sie könnte aber auch dafür gesorgt haben, dass sich die «Emotionen überschlagen», wie es ben Sulayem nannte. Das wäre ein Ansatz.
Weltmeister Verstappen spricht angesichts digitaler Gewalt vom «Tastaturkrieger», der einem Häme und Hass «nie ins Gesicht sagen» würde. «Aber sie sitzen zu Hause vor ihrem Computer, sind verärgert und frustriert, und können schreiben, was sie wollen.»
Belästigung, Missbrauch und Hassreden im Internet dürfen «nicht toleriert werden», beschied ben Sulayem, der in den nächsten Monaten eine Kampagne gegen Online-Hetze plant. Näheres will er beim Saisonfinale in Abu Dhabi berichten. «Wir müssen das anprangern», betonte ben Sulayem. «Es muss aufhören.»